Günter Grass lässt grüßen

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Schade! – Meine obligatorische Auszeit, die ich in den vergangenen Jahren im Februar auf Usedom verbracht habe, musste dieses Jahr coronabedingt ausfallen. Zu dieser Jahreszeit ist es dort sehr ruhig, und ich kann auf langen Strandspaziergängen über vieles nachdenken und neue Pläne schmieden.

Bei der Durchsicht meiner Digitalfotos fiel mir eines ins Auge, das ich mit meinem I-Phone am Strand von Usedom gemacht und schon fast wieder vergessen hatte. In der Dämmerung sah ich am Fuß der Düne nahe Ückeritz von weitem eine merkwürdige Gestalt. Sie stand unbeweglich da. Nur die Kleidung flatterte im Wind. War es ein Mensch? Ein Gespenst? Eine Sinnestäuschung?

Hundejahre und Vogelscheuchen

Nein! Als ich näher kam, erkannte ich dieses merkwürdige Gebilde als Vogelscheuche. Aber wer stellt denn am Strand eine Vogelscheuche auf?

Da kam mir in den Sinn: Vielleicht hatte jemand gerade den Roman »Hundejahre« von Günter Grass gelesen. Darin geht es um zwei ungleiche jugendliche Freunde, einer aus reichem und einer aus armem Elternhaus. Die machten sich einen Spaß daraus, allerlei Treibgut, u.a. auch Lumpen aus der Weichsel zu fischen. Der Freund aus reichem Elternhaus war der Kreative von den beiden. Er baute daraus Vogelscheuchen, was er mit der Zeit zu einer Kunst entwickelte. Als er allerdings anfing, regionale SA-Größen als Vogelscheuche darzustellen, war der Spaß vorbei. Ein Trupp von Nazischlägern, zu denen sich auch sein Freund gesellt hatte, überfiel ihn und schlug ihm alle Zähne aus.

Soweit die Erzählung von Günter Grass. Diese schaurige Vogelscheuche hier am Strand von Usedom erinnerte mich an diesen Roman, den ich vor sehr langer Zeit einmal gelesen hatte.

Komische Gestalten – lachende Vögel

Jetzt, als ich dieses Foto wieder in meinem Computer entdeckte, fiel mir ein, dass ich auch andere Vogelscheuchen fotografiert hatte, die meisten in englischen Gärten. Sie sahen alle mehr oder weniger komisch aus. Ich denke: Wenn die Vögel lachen könnten – vielleicht können sie es ja – wenn sie denn verstünden, dass diese lächerlichen Gebilde dazu dienen sollen, sie aus dem Garten zu vertreiben, sie würden sich wohl kaum noch einkriegen vor Lachen.

Einen Augenblick lang dachte ich daran, dass es doch vielleicht lustig wäre, wenn ich auch einmal eine Vogelscheuche bauen und in meinem Garten aufstellen würde. – Doch wozu? Die Krähen, die sich an der benachbarten Kompostieranlage bedienen, indem sie dort allerlei Abfall aufpicken, den sie beim Überfliegen meines Gartens fallen lassen, würden sich wohl von einer Vogelscheuche kaum beeindrucken lassen – und sähe sie noch so gruselig aus. Und die anderen Vögel, die Meisen, die Amseln, die Rotkehlchen, den Zaunkönig oder die Stare, die sich einmal kurz vor ihrer Reise nach Süden vor meinen Augen mit lautem Spektakel auf meinen Holunder, Sorte 'Haschberg' stürzten, den sie im Handumdrehen leergepickt hatten, und noch nicht einmal die Spatzen – ich möchte sie um alles in der Welt nicht aus dem Garten vertreiben wollen. Im Gegenteil: Ich lasse alles verblühte Staudenkraut und was sonst noch Samen trägt über den Winter stehen, um den Vögeln auch bei Eis und Schnee noch etwas Nahrung zu bieten. Aber jetzt ist ohnehin längst der Frühling da, sie finden wieder ausreichend Futter und machen sich ans Brutgeschäft.

Und über Vogelscheuchen amüsiere ich mich nur, wenn sie in anderen Gärten stehen – oder am Strand bei Ückeritz auf Usedom.

Wolfram Franke
aus Vaterstetten Handfeste Gartenarbeit und Schreiben, sowohl mit grüner Tinte als auch mit dem Computer, gehören für Wolfram Franke zusammen. Seinen seit 1994 gewachsenen Kreativgarten in Vaterstetten hat er mit alten Baustoffen gestaltet.
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Text und Fotos: Wolfram Franke