Spielfreudige Hirschzungen

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»...als wollte die Natur zeigen, dass der einzige unserer Farne mit ungeteiltem Blatt daraus alle nur erdenklichen Variationen entwickeln kann.«, so schreibt Richard Maatsch in seinem schönen »Das Buch der Freilandfarne«.

Tatsächlich hat die Hirschzunge – darauf bezieht sich ja auch der deutsche Name – ein völlig ungeteiltes, zungenförmiges Blatt und ist dennoch sofort als Farn zu erkennen. Wissenschaftlich heißt sie Phyllitis scolopendrium oder Asplenium scolopendrium, je nach Buch und Auflage. Ob die Hirschzunge nun »vor Gott« den Rang einer eigenen Gattung verdient oder noch unter den weiten Mantel der formenreichen, weltweit verbreiteten Gattung der Streifenfarne (Asplenium) passt, ist freilich nicht zu entscheiden. Und dass wir Botaniker und Gärtner immer mal wieder mit anderen Gattungsnamen leben müssen, kann uns ja schon längst nicht mehr schockieren.

Egal unter welchem Etikett: in der Natur ist die Hirschzunge eine Schönheit schattiger, luftfeuchter Schluchtwälder in Süddeutschland, dem Alpenraum oder Südeuropa; in Norddeutschland kommt sie kaum vor. Im Garten ist sie jedoch, wenn wir sie nicht gerade im sonnig-heißen Steingarten mit Thymian und Federgras kombinieren wollen, ein ziemlicher Allrounder.

Und wer das zeitlose, zungenförmige Design etwa langweilig finden sollte, dem sei gesagt: Die Hirschzunge gehört zu den spielfreudigsten Farnen, und ihre Bereitschaft, immer mal wieder Mutationen hervorzubringen, hat die Sammler seit den Zeiten des Victorian Fern Craze fasziniert. Alles ist darunter von angustifolia (schmalblättrig), mucronata (zugespitzt), undulata (gewellt), laciniata (fiederschnittig) über furcans (gegabelt) bis zu capitata mit kopfsalatartig gekräuselten Blattenden; rein oder in allen erdenklichen Kombinationen. Nicht bei allen Farnen gehen die Sporen aus Geschlechtsvorgängen hervor, aber die Hirschzunge genießt alle Freuden der Genetik inklusive der variablen Nachkommenschaft. Und da sich auch ihre Spielarten am zusagenden Standort, etwa einer absonnigen Gartenmauer, gelegentlich selber aussporen, ist es immer spannend, auch bei den Sämlingen nach Formabweichungen zu suchen.

Nur eine berühmte Form bildet niemals Sporen: 'Crispa' mit ihrem hellgrünen, sehr regelmäßig gewellten Blatt ist völlig steril. Diese Form können wir nur durch Teilung alter Horste vermehren, oder durch die völlig verrückte Geheimwissenschaft der »Blattstiel-Stecklinge«, durch die so niedliche Kindergärten kleiner Krauser Hirschzungen entstehen, wie man sie auf dem Foto erkennen kann. Nur so konnte und kann es gelingen, diese völlig unverkennbare, kostbare Form zu erhalten, seit sie im England des 19. Jahrhunderts als Zufallsmutation von einem aufmerksamen Farnsammler gefunden wurde.

Michael Schwerdtfeger
Vollblutbiologe Dr. Michael Schwerdtfeger, geboren 1964 im plattdeutschen Flachland zwischen Weser und Lüneburger Heide, träumte er von Sielmann und Grzimek, von Abenteuern mit Pflanzen und Tieren in fremden Ländern.
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Text und Fotos: Michael Schwerdtfeger