Von orchideenhafter Schönheit:
Die Gefleckte Taubnessel (Lamium maculatum)

Text: Michael Schwerdtfeger
Fotos: Michael Schwerdtfeger | Lamium orvala: Gerlinde Sachs | Lamiastrum galeobdolon: Staudengärtnerei Gaißmayer

Wäre sie doch aus den Wäldern Oregons und Kaliforniens wie die hippen Purpurglöckchen (Heuchera)! Oder gar aus unzugänglichen Bergregionen des Himalayas und Südchinas wie die teuren buntblättrigen Haselwurzen (Asarum). Dann hätte sie es als angesagte Gartenstaude weit bringen können! Da sie aber am Graben vor unserer Haustür wächst oder sich gar an nährstoffreichen Wegrändern mit Giersch (Aegopodium), Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata) und anderem verachteten Pöbel gemein macht, bleibt sie weitgehend verkannt.

Schaut ihr einmal ins Gesicht! Die Taubnesselblüte ist ja nicht einfach nur »rund« wie die eines Hahnenfußes oder einer Rose, sondern hat ein Oben und Unten, Rechts und Links wie ein menschliches Gesicht. Wohl deshalb hat die altmodische Systematik unserer botanischen Vorfahren die Pflanzenfamilien mit derartigen Blüten, zusammen mit den Lippenblütlern also auch Rachenblütler, Akanthus- und Gesneriengewächse als »Personatae« zusammengefasst. Persona war bei den Lateinern die Maske, aber auch der Charakter, die Individualität. Die Blütenökologen nennen solche Blüten »zygomorph« oder dorsiventral – eben wie ein Gesicht oder auch wie eine »Garage«. Denn genau so funktioniert die Taubnesselblüte. Die Hummel fährt vorwärts hinein und parkt rückwärts wieder aus – und hat dann an einer ganz bestimmten Stelle auf dem Rücken eine kleine Portion Pollen verpasst bekommen, die sie hoffentlich zur nächsten Blüte trägt.

Schmetterlinge, Honigbienen oder Schwebfliegen sieht man niemals bei solchem Tun, aber unsere Hummeln sind darin Meister, und nur in Koevolution mit ihnen sind die Taubnesselblüten zu verstehen.
Alle Taubnesseln sind schön! Auch die Goldnesseln (Galeobdolon), und erst recht der prachtvolle »Nesselkönig« (Lamium orvala) aus Südosteuropa. Aber auch, wenn man sich einfach nur am heimischen nährstoffreichen Wegrand zwischen Giersch und Klettenlabkraut hinhockt und den Hummeln an der Gefleckten Taubnessel zusieht, wird man sich spontan verlieben und ein paar Triebe für den Garten mitnehmen.

Nur der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass sie sich dort an absonniger, humoser Stelle als robuste, wintergrüne Bodendecker erweisen und dass auch die Staudengärtnereien ein Sortiment an Auslesen bereithalten, teils auch mit schön silbergemusterten Blättern. Aber wie gesagt: Schön sind sie alle!

Michael Schwerdtfeger
Vollblutbiologe Dr. Michael Schwerdtfeger, geboren 1964 im plattdeutschen Flachland zwischen Weser und Lüneburger Heide, träumte er von Sielmann und Grzimek, von Abenteuern mit Pflanzen und Tieren in fremden Ländern.
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Text: Michael Schwerdtfeger
Fotos: Michael Schwerdtfeger | Lamium orvala: Gerlinde Sachs | Lamiastrum galeobdolon: Staudengärtnerei Gaißmayer