Die Geheimnisvollen: Abessinische Gladiolen
Ein Beitrag von Andreas BarlageSeitdem ich Blumenzwiebelkataloge kenne – den ersten hielt ich bereits im Alter von etwa 12 Jahren in den Händen – gefallen mir die Abessinischen Gladiolen. Damals hießen sie noch botanisch „Acidantera“; heute sind sie der Gattung „Gladiolus“ zugeordnet. Doch es dauerte lange, gut 20 Jahre, ehe ich sie das erste Mal selbst in einem Garten ausprobiert hatte. Ich weiß gar nicht, warum ich so viele Gartensaisons gebraucht hatte, um sie einmal selbst zu pflanzen. Am Preis kann es nicht liegen, denn die Knollen waren stets sehr günstig und gehören auch heute noch zu den preiswertesten im Regal der Blumenzwiebeln und –knollen. Irgendwie traute ich mich nicht so recht heran an diese Blütenschönen ... bis zu dem Tag, als ich einmal ein Foto in einem Buch von einer Gruppe dieser Pflanze sah, die in einen mit Moos ausgekleideten und Substrat gefüllten Einkaufswagen wuchs. Sie haben richtig gelesen! Auf diese Idee sind nämlich die beiden gestalterisch strahlend hellen Köpfe Claudia Wörner und Martin Weimar gekommen. Offenbar waren diese Pflanzen leicht zu kultivieren und ich war ermutigt. Einen Mai später pflanzte ich eine Gruppe der Knollen in einen Kübel mit guter Blumenerde und wartete ab.
Die Austriebe glichen völlig denen von Gladiolen – schwertförmig durchstießen die Blätter die Oberfläche des Substrates. Doch im Laufe des Wachstums verloren sie die steife Straffheit der bekannten Vasenblumen. Völlig ausgewachsen neigten sich die Blätter im oberen Viertel leicht und elegant über. Der Hochsommer war angebrochen und sehr bald stellte sich heraus, dass die Blütenschäfte inmitten der Blätter unentdeckt herangewachsen waren. In den obersten Zonen, zwischen dem Laub, das dort etwas auseinanderweicht, lugten nun die dünnen aber zähen Stiele heraus und trugen sieben, acht, neun Knospen, die sich, den großen Garten-Gladiolen ähnlich, als endständige Traube präsentierten. Anders aber als bei den großen Schwestern neigte sich auch der Blütenschaft vornehm über. Wenige Tage später öffnete sich die erste Knospe: Wow. Die Blüte war rein weiß; ihre sechs Blütenblätter formten ein Dreieck mit der Spitze nach unten und wurden belebt durch tief purpurrote Bänderungen, die sich ebenfalls zu einem Dreieck formierten. Es schien, als hätte eine weiße Wildgladiole sich eine dunkle Augenmaske zugelegt.
Wie gesagt, wuchsen die Pflanzen in einem Gefäß auf der Terrasse. Nach wenigen Tagen waren mehrere Blüten aufgeblüht und wir saßen im Freundeskreis am Abend bei einem Glas Rotwein zusammen. Fast gleichzeitig bemerkten wir, dass ein feiner lilienähnlicher Duft durch die Dämmerungsluft schlich, der von den Abessinischen Gladiolen herrührte und sich in der warmen Sommernachtsluft verstärkte. Mehr noch! Mit zunehmender Dunkelheit leuchteten die Blüten im Schein der Windlichter auf und zogen Nachtfalter an. Raffiniert, dachte ich, denn nun wiesen die dunklen Zonen auf den Blüten den hungrigen Schmetterlingen den Weg zu ihrem Paradies – Nektar gibt es nur in der Mitte der Blüten. Da sich der Blütenflor über einige Wochen hinzog, konnten Terrassengäste und Motten in jenem Sommer noch so manches Mal dieses Spektakel genießen.
Aber wie jeder Sommer, endete auch dieser. Und nun überlegte ich, wie ich die Pflanzen durch den Winter bringen sollte. Ich wollte sie um keinen Preis verlieren, und obwohl die Knollen nicht viel Geld kosten, hatte ich den Ehrgeiz, meine Abessiner am Leben zu erhalten und nicht durch Neukäufe zu ersetzen. Was wäre die beste Taktik, um die Knollen vor Frost zu schützen? Ich kam zu keinem Ergebnis, wie bekannt, bin ich ja auch eher schusselig und verlor diese Aufgabe ein wenig aus den Augen. Als nun die ersten Fröste das Laub der Dahlien bereits geschwärzt hatte, musste ich aber handeln. Kurzerhand nahm ich den Kübel so wie er war und stellte ihn komplett mit Erde in einen frostfreien Keller neben die Fahrräder, die ebenfalls vorerst ausrangiert waren. Diese Verlegenheitslösung erwies sich als überraschend richtig. In jenem Winter kam ich nämlich mit einer Dame ins Gespräch, die in der Grünen Branche vorzügliche PR-Konzepte entwickelt und durchführt: Claudia Gölz. Sie legt sich unter anderem für Zwiebelblumen ins Zeug. Wir trafen uns bei der Internationalen Pflanzenmesse IPM in Essen und plauderten über – na was wohl – Zwiebelblumen. Claudia Gölz erwies sich als Kennerin, die ihr Wissen nicht allein am Schreibtisch erworben hat. Ich schwärmte ihr von meinen Abessinischen Gladiolen vor und fragte sie, wie sie denn ihre Pflanzen über den Winter bringen würde. „Ach,“ sprach sie „ich stelle im Spätherbst immer den Topf, in dem sie wachsen in den Keller. Wenn es Frühling wird, tausche ich etwas Erde aus, schneide das alte Laub ab – das passt schon so ...“. Wie bitte? Ich sah also, dass mein notgedrungenes Handeln durch eine echte Expertin legitimiert wurde, und agiere seitdem genau wie sie. Das hat den Abessinischen Gladiolen bisher in keinem Jahr geschadet.
Ach ja – und ehe ich es vergesse. Vielleicht finden Sie beim Stöbern in Büchern und im Internet keine Pflanze, die im Deutschen als „Abessinische Gladiole“ bezeichnet wird. Dieser Name ist recht alt und scheint ein wenig aus der Mode gekommen zu sein. Mittlerweile hat sich das ebenfalls hübsche Wort „Sterngladiole“ eingebürgert. Doch ich bleibe bei der älteren Bezeichnung, denn sie beschwört den Zauber eines fernen Landes und seiner exotischen Geschichte herauf. Ich stelle mir dann vor, dass diese Knollen mit einer Kamel-Karawane aus dem Orient in unser Land gebracht wurde und nun als kostbare Rarität im geheimen Garten eines Lords wachsen kann. Bitte nehmen Sie mir diese blumige Fantasie nicht übel – was wären Blumengeschichten ohne sie.
Text und Fotos: Andreas Barlage