Alles Nützlinge

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Schrebergärten werden vorwiegend von Laien beackert, die, anders als es sich für Laien gehören sollte, wie Jugendliche am Computer lernen. Mutig und voller Tatendrang voran, probieren, bis es funktioniert oder gar nichts mehr geht. Nachdem ich im vergangenen Dürresommer fünf sinnvolle Regeln zum Gießen in die Nachrichtenkästen gehängt hatte, sehe ich in diesem Sommer wieder Gartenfreunde, die ihre Brause in die Baumkrone halten anstatt auf den Wurzelbereich. Überhaupt wird gerade gegossen, als würden Dicke Bohnen mit jedem Schluck Wasser dicker werden und ein Tennisball die Zielgröße sein.

Wasserknappheit ist ein brennendes Thema, und doch aber es reicht ein Platzregen, um das vorübergehend zu vergessen. Doch gibt es in diesen Zeiten auch noch andere Themen, das Artensterben zum Beispiel ist ein Dauerbrenner und treibt bei uns bemerkenswerte Blüten. Der eine Gartenfreund zählt Singvögel, der andere schichtet einen Totholzhaufen für Igel und Holzbienen auf, gegenüber wächst schon das zweite Insektenhotel aus dem Boden, mit Stroh gestopfte Tontöpfe hängen als Übernachtungsquartier für Ohrenkneifer von den Obstbäumen. Das alles macht einen guten Eindruck und beschert den Gärtner*innen ein reines Gewissen. Die traurige Wahrheit: Wer am Abend eine Wildbiene im Bohrloch verschwinden sieht meint, in nachwirkender Genugtuung in der nächsten Mittagshitze den Rasen sprengen zu können.

Denken in Zusammenhängen scheint sich bei aller ökologischer Sensibilitität noch nicht ganz durchgesetzt zu haben. Vor ein paar Tagen wurde ich wieder mal Zeuge dieses bedauerlichen Zustands. Die mich umgebende Laiengärtnerschar fragt mich selten etwas, aber kürzlich kam es dann doch dazu. Ich spazierte in meinem Garten von Apfelbaum zu Apfelbaum, sieben an der Zahl, von klein bis groß. An jedem hatte die Apfelbaumgespinstmotte (Yponomeuta malinellus) Gefallen gefunden, so dass zahlreiche Triebabschnitte von einem Gespinst umschleiert waren. Um das Treiben darin genauer betrachten zu können, holte ich eine Lupe aus der Laube und fand diese eigene Welt umso faszinierender, je näher ich ihr kam. So manches Blättchen wurde da zermalmt. »Ekelich is dat«, hörte ich einen Gartenfreund sagen, der urplötzlich hinter mir stand. Hanspeter hatte reichlich Schrammen an den Armen, frisch in die Haut gezogen, wie er mit einem gewissen Stolz berichtete. Er war in seinen zwei alten Apfelbäumen gewesen, um die Gespinste herauszuschneiden. »Ersäuft hab ich die dann, aber sofort!« Mit nackten Armen in schlecht geschnittenen Apfelbäumen herumzuturnen, bringt nun mal Schrammen. »Un, wat macht der Profi dagegen?«, fragte er mich mit einer Miene, die eine Vorahnung von der Antwort erkennen ließ.

Ich überlegte kurz, und da ich es mir als Vorsitzender mit den Stützen der Anlage, zu denen Hanspeter gehört, nicht verscherzen will, fiel mir als beste Strategie eine Rückfrage ein: Welche Schäden denn die Gespinstmotte anrichten würde. Die Antwort fiel eher unwissenschaftlich aus: »Na, weniger Äppel!« Doch wollte er nicht gefragt werden, er wollte Antworten von mir. Aber ich schlug ihm als nächstes vor, im Herbst Äpfel zu zählen. Das fand er blöd, das beweise nichts. Um ihn mürbe zu machen, fragte ich erneut. Was er vom Artensterben halte. »Ja, wat soll ich denn sonst noch tun? Drei Nistkästen aufgehängt, Baumstümpfe für Wildbienen angebohrt, ein Stück mit Wildblumen eingesät. Mehr geht ja wohl nicht.« »Na ja«, bemerkte ich. Ihm wurde es langsam ungemütlich, er ahnte wohl, dass er auf seine Anfangsfrage keine Antwort bekäme, die ihm gefallen würde. Als Ablenkungsmanöver, weg von der Gespinstmotte, ließ er seinen Blick über unser Gärtchen schweifen und entdeckte dabei einen abgeblühten, über einen Meter hohen Rotkohl. Auch aus fünf Metern Entfernung war zu sehen, dass die sich bildenden Samen übersät waren von gräulichen Blattläusen. Was das denn sei, fragte der Mann, der noch nie einen Rotkohl hatte stehen und im kommenden Jahr wachsen und blühen lassen. »Dat Ding is ja voll mit Läuse, dat seh ich ja von hier aus. Ätzend. Un, dagegen machste wahrscheinlich auch nix!« Bevor ich mit ihm zu dem Rotkohl gehen konnte, um die Blattläuse zwischen zwei Fingen zu zerquetschen, landete eine Kohlmeise auf einem Läusetrieb. »Ich lasse machen!«, antwortete ich mit einer etwas überheblichen Lässigkeit, die Hanspeter verständnislos gucken und dann kopfschüttelnd von dannen ziehen ließ. Ich wusste nicht, ob Meisen überhaupt Blattläuse fressen.

Am selben Abend saß ich mit meiner Dame beim Wein, still das Meer aus Mohn und Kornrade bewundernd, als zwei kleine Säugetiere über den geraden Teil des Plattenweges jagten. Das hintere war definitiv ein Mauswiesel. Ob das vordere ein Spielgefährte war oder eine gejagte Maus, haben wir so schnell nicht ausmachen können. In das Glücksgefühl darüber, zum ersten Mal im Leben ein Mauswiesel gesehen zu haben, mischte sich sogar etwas Mitleid, falls das Rennen kein Spiel, sondern eine Hetzjagd gewesen war. Die arme Maus ...

Als die Vierbeiner im Staudendschungel verschwunden waren, erzählte ich von Hanspeter, über die Gespinstmotte und wie mich die Kohlmeise gerettet hatte. Meine Frau verzog, wie Hanspeter, bei Gespinstmotte und Blattlaus ihr Gesicht, kam aber immerhin bereitwillig meiner Bitte nach: »Google mal Apfelgespinstmotte!« Offensichtlich entgegen ihrer Erwartung erschien ein Bild, auf dem die Motte ihre zwei Zentimeter messenden Flügelchen ausgebreitet und damit ihre zurückhaltende Schönheit offenbart hatte. Ein Flügelpaar ist silberblau mit schwarzen Punkten, das andere rehbraun, eine zauberhafte Farbkombination, alles recht zierlich, um nicht zu sagen fein. Meine Frau mag keine Nachtfalter, aber hier entschlüpfte ihr sogar ein »wie süß«. Es ist eine Binsenweisheit, das Raupenmord der vorweggenommene Faltermord ist, aber manchmal braucht es ein Googlebild, um nie wieder ein Raupennest anzurühren.

Wir sprachen dann noch eine Weile von Schädlingen und Nützlingen, von Mäusen und Menschen, davon, dass Blattläuse sogar Nützlinge sein können, für die Meisen oder Marienkäferlarven zumindest. Die Zeit für gute Vorsätze war gekommen. Wir beschlossen, ab sofort keine Mausefalle mehr in der Werkstatt aufzustellen, weil Mäuse ab sofort (auch!) Nützlinge sind, für das Mauswiesel. Als der Wein ausgetrunken war, hatten wir uns so nah wie lange nicht dem spannenden Punkt genähert, ob wir künftig nicht besser von sämtlichem Viehzeug (außer von Nacktschnecken) die Finger lassen und uns öfter einfach hinsetzen und still zusehen sollten. Wir nickten beide Jaja. Ob dann meine bessere Hälfte in dieser »Wir sind Teil des großen Kreislaufs« – Euphorie meine Duldsamkeit extrem herausfordern oder mich zum Heimradeln drängen wollte, kann ich nicht sagen. Zumindest wusste sie, wo meine Grenzen sind, als sie meinte, gelesen zu haben, dass sich die Singvögel jetzt auch auf den Buchsbaumzünsler eingeschossen hätten. »Noch einen Absacker, oder hast Du genug?«, fragte ich im Aufstehen.

 

Stefan Leppert
Der Buchautor, Journalist und Übersetzer Stefan Leppert versorgt uns »Nachrichten aus dem Schrebergarten«, denn er gärtnert nicht nur in einer sehr besonderen Kleingartenanlage.
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Text und Fotos: Stefan Leppert