Kürbisse als Überlebensstrategie

Text und Fotos: Anne und Rolf Bucher 
Porträtfoto: © Marianne Bruneau 


Anne und Rolf Bucher: Zwei Gärtner aus Leidenschaft

Seit ihrer gärtnerischen Ausbildung in den 1970er-Jahren begleitet Anne und Rolf Bucher die Arbeit mit der Natur – beruflich wie privat. Drei Jahrzehnte lang kultivierten sie Heilpflanzen in Deutschland und sammelten dabei wertvolle Erfahrungen.

2011 schlugen sie ein neues Kapitel auf: Seither sind sie international als Ausbilder, Berater und Lehrende unterwegs. Sie unterstützen Schulfarmen, bilden Gartenbaulehrkräfte aus und schulen landwirtschaftliche Berater in biologischen und biodynamischen Methoden. Ein weiterer Fokus liegt auf der Zusammenarbeit mit Kleinbauern und dem Unterricht an landwirtschaftlichen Fachschulen.

Ihre Reisen führen sie regelmäßig nach Kenia, Simbabwe, Indien, Indonesien und Malaysia. Auch in Europa bleiben sie aktiv – in der Schweiz und in Deutschland engagieren sie sich weiterhin in der Ausbildung junger Landwirtinnen und Landwirte.

Nach über einem Jahrzehnt weltweiter Tätigkeit blicken Anne und Rolf Bucher auf zahlreiche Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und auf die Arbeit mit tropischen Pflanzen zurück – Erfahrungen, die sie als große Bereicherung empfinden.


Zu Besuch in Illertissen

Kürzlich fanden wir endlich wieder einmal die Gelegenheit, die Gärtnerei Gaissmayer zu besuchen. Dieter Gaissmayer nahm sich viel Zeit und führte uns durch die Gärtnerei sowie das Museum der Gartenkultur. Neben vielen neuen Beeten mit beeindruckenden Pflanzenkombinationen faszinierten uns besonders die Projekte »111 Klimabäume« und »OMC° C Kletterpflanzen«. Die Vielfalt der Kletterpflanzen weckte Erinnerungen an unsere Projektarbeit in West-Bengalen und die Begegnung mit einer erstaunlichen Fülle verschiedenster Kletterkürbisse.

Kürbisgewächse in Indien – Überlebenskünstler der Monsunzeit

Fliegt man im Hochsommer nach Indien, ist man meist einer der wenigen Europäer an Bord. Wer reist schon freiwillig dorthin, wenn Hitze und Luftfeuchtigkeit ihre Extreme erreichen? Für unsere Arbeit mit einer NGO war es jedoch entscheidend, rechtzeitig vor dem Monsun in den Dörfern zu sein, um gemeinsam mit indischen Kleinbauern Küchengärten anzulegen. Diese kitchen gardens sind weit mehr als nur Gemüsebeete – sie sind Überlebensstrategien. Während Reis zwar dreimal täglich den Magen füllt, fehlen den Menschen die essentiellen Nährstoffe für eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Über die Hälfte der jungen Mütter und Kleinkinder in ländlichen West-Bengalen und anderen indischen Bundesstaaten leidet unter Unterernährung mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen.

Wenn der Monsun das Land verwandelt

Von 2012 bis 2019 führten wir deshalb dreimal jährlich für vier bis sechs Wochen regelmäßige Beratungseinsätze in Indiens ländlichen Gebiete durch. Diese Jahre lehrten uns nicht nur die außergewöhnlichen Herausforderungen der indischen Bauern kennen, sondern auch die zentrale Bedeutung der Kürbisgewächse für die dortige Bevölkerung. Die Situation für Kleinbauern ist weltweit nicht einfach. Oft sind sie zwischen der traditionellen Landwirtschaft und dem Druck der Modernisierung durch Pestizide und Hybrid-Saatgut eingeklemmt, ohne wirklich eine freie Wahl für nachhaltige, resiliente Anbaupraktiken zu haben. Wertvolles altes Wissen zu erhalten und reaktivieren, ist deshalb von großer Bedeutung.

Der Zeitpunkt unserer Ankunft ist für die Projekte entscheidend. Die Zeit vor dem Monsun ist für die Menschen eine extreme Belastung. Die Temperaturen liegen häufig bei über 40°C, die Sonne hat den Boden ausgetrocknet und in eine steinharte Oberfläche verwandelt. Wenn die ersten Monsunwolken über den indischen Subkontinent ziehen, beginnt für Millionen von Kleinbauern eine herausfordernde und arbeitsintensive Zeit: die Reisaussaat. Mit den ersten Monsunregenfällen verwandelt sich alles. Der Boden kann endlich wieder bearbeitet werden, die Regenfälle sorgen für eine willkommene Abkühlung. Man kann sich in unseren Breiten die Bedeutung des Monsuns kaum vorstellen. Man kann sie vielleicht erahnen, wenn man liest, dass die Reserve Bank of India ihren Wirtschaftsbericht mit einer Wettervorhersage für den Monsun beginnt. Diese scheinbare Kuriosität hat handfeste Gründe: Über 40% der Bevölkerung Indiens sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Ein schwacher Monsun führt zu Ernteausfällen, während zu starker Monsunregen Überschwemmungen und Infrastrukturschäden verursachen kann. Der Monsun beeinflusst also massiv die Wirtschaftsleistung Indiens.

Vertikale Gärten auf indische Art

In den Monaten des Monsuns zeigte sich einmal die wahre Größe der Kürbisgewächse als Überlebenskünstler der indischen Landwirtschaft. Während Möhren, Kartoffeln und Zwiebeln in der extremen Feuchtigkeit unweigerlich faulen, gedeihen Kürbisgewächse gerade unter diesen Bedingungen. Von winzigen Gurken bis zu monumentalen Kürbissen – jede Art hat ihre eigene Überlebensstrategie entwickelt. Besonders faszinierend war die Anbauweise. Die Bauern kultivierten ihre Kürbispflanzen auf Dämmen oder kleinen Hügeln – eine hervorragende Lösung für die Monsun-Herausforderungen. Die erhöhte Position verbessert die Drainage und erwärmt sich nach Regenfällen schneller. Die Pflanzen nutzen ihre natürliche Kletterneigung voll aus. Ein unvergesslicher Anblick: Kürbispflanzen, die an Zäunen und Hauswänden bis auf die Dächer klettern und dort ihre Früchte entwickeln. Jeder Quadratmeter wurde einst produktiv genutzt, ohne zusätzlichen Boden zu beanspruchen. Häuser, Zäune und Rankgerüste verwandelten sich in vertikale Anbauflächen. Die Kürbisse, Melonen und Gurken sind in Gestalt und Form artenreich und vielfältig. Einige Pflanzen sind die Bittergurke (Momordica charantia), der Flaschenkürbis (Lagenaria siceraria), die Schlangengurke (Trichosanthes cucumerina), die Schwammgurke (Luffa aegyptica), der Spitzkürbis (Trichosanthes dioica), der Stachelkürbis (Momordica dioica) und die Zuckermelone (Cucumis melo).

Die Nutzung ging weit über die reifen Früchte hinaus. Regelmäßig ernteten die Bauern junge, frische Triebe als nährstoffreiches Gemüse. Durch diese Schnittmaßnahme wird das Pflanzenwachstum angeregt. Die großen Blätter schützen den Boden vor Erosion während intensiver Monsunregenfälle, ihre Wurzeln verbessern die Bodenstruktur. Die männlichen Blüten produzieren reichlich Nektar und Pollen, die weiblichen Blüten erzeugen nur Nektar. Die Blüten werden von Bienen und zahlreichen anderen Insekten beflogen.

Medizin aus dem Garten

Besonders beeindruckend ist die Vielfalt der kultivierten Arten. Süße Sorten dienen als Dessert, herzhafte Varianten bereichern Currys. Einige Kürbisgewächse wie der Flaschenkürbis, die Bittergurke, der Speisekürbis (Cucurbita moschata) und der Wachskürbis (Benincasa hispida) gelten neben ihrer Verwendung als Nahrungsmittel außerdem auch als traditionelle Heilpflanzen. Sieben Pflanzen aus dieser Familie werden als Heilpflanze in der ayurvedischen Medizin verwendet.

Der Bitterkürbis verdient besondere Erwähnung. Sein Name verrät bereits seine Eigenschaft – eine Bitterkeit, die jedoch mehr als nur Geschmack ist. Die Bauern haben raffinierte Methoden entwickelt: Kürbisscheiben 30 bis 60 Minuten in Salz eingelegt, reduziert die Bitterkeit erheblich, ohne die wertvollen Inhaltsstoffe zu zerstören. In der traditionellen Medizin wird er für seine blutzuckersenkenden Eigenschaften geschätzt – in Zeiten steigender Diabetes-Zahlen ein unbezahlbarer Schatz. Bei modernen Bittergurken wurde, ähnlich wie bei einigen unserer Gemüsearten, ihre Bitterkeit weggezüchtet.

Es gibt in Indien zahlreiche lokale alte Sorten. Doch traditionelle Landsorten werden inzwischen immer häufiger durch moderne Hybridsorten ersetzt. So geht diese wertvolle genetische Vielfalt verloren. Es gibt jedoch zu Glück Bemühungen, alte Landrassen zu erhalten.

Eine Weltreise der Kürbisse

Die Geschichte der Kürbisgewächse ist eine Geschichte der Menschheit selbst. Lateinamerika gab uns viele der wichtigsten Arten, archäologische Funde belegen ihre Kultivierung bereits vor über 10.000 Jahren in Mexiko. In Afrika wurden bereits 4000 v. Chr. Wassermelonen und Flaschenkürbisse angebaut. Etwa die Hälfte der ungefähr 20 in Indien angebauten Kürbisarten stammt ursprünglich aus Indien oder vom indischen Subkontinent. Die lange Kultivierungsgeschichte führte zu unzähligen lokalen Sorten, perfekt angepasst an die spezifischen Bedingungen des Subkontinents.

Nach Deutschland gelangten die ersten Kürbisse wahrscheinlich im 16. Jahrhundert durch spanische und portugiesische Seefahrer. Während Zucchini erst im 20. Jahrhundert populär wurden, etablierte sich die Gurke bereits im Mittelalter über Handelswege aus dem Nahen Osten. Im Handbuch des Gesamten Gemüsebaues von Becker-Dillingen von 1924 wird nur der Anbau von Gurke, Melone, Wassermelone und Kürbis beschrieben, während das Handbuch der Samengärtnerei von 2004 immerhin schon 10 verschiedene Kürbisgewächse erwähnt. Erwähnenswert ist das schön illustrierte informative Buch »Die Melonen der Monarchen« (Heilmeyer, M., 2003,Vacat Verlag).

Herausforderungen

Doch auch die widerstandsfähigen Kürbisgewächse stehen vor Herausforderungen. Bei extremer Hitze produzieren die Pflanzen vermehrt männliche Blüten und reduzieren dadurch die Fruchtbildung drastisch. Hohe Temperaturen beeinflussen die Hormonproduktion, die das Geschlechterverhältnis der Blüten steuert. Schattierung während extremer Hitzeperioden oder bewusste Verschiebung des Aussaatzeitpunktes können helfen.

Mehr als nur Nahrung

Kürbisgewächse sind tief in der indischen Kultur verwurzelt. Sie spielen in religiösen Zeremonien eine Rolle. Besonders Frauen übernehmen wichtige Rollen bei der Kürbiskultivierung und verfügen über spezielles Wissen zur Sorten- und Saatgutauswahl.

Sie sind weit mehr als nur Nutzpflanzen – sie tragen kulturelle Traditionen und bäuerliches Wissen über traditionelle Anbausysteme und landwirtschaftliche Weisheit. Die Pflanzen dieser Familie stehen für Anpassungsfähigkeit, Vielfalt und für die Weisheit traditioneller Praktiken. Es ist faszinierend zu sehen, dass unsere bäuerlichen Vorfahren schon vor 10.000 Jahren wahre Überlebenskünstler unter den Kürbissen gezüchtet haben – Sorten, die nicht nur den heftigen Monsunregen, sondern sogar die kargen Bedingungen in Wüstengebieten problemlos meistern. Sie zeigen, wie aus extremen Bedingungen nicht nur Überlebensstrategien, sondern wahre Kunstwerke der Landwirtschaft entstehen können.

Gastbeiträge
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