Die Knospe – ein Schauspiel für Geduldige

Text: Anja Birne
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Sylvia Peter, Forum Botanische Kunst

oder die Faszination der Botanischen Kunst 

Martin J. Allen ist fasziniert von Knospen. Sie stellen für den Maler den spannendsten Moment im Leben einer Pflanze dar. Wer sich wie er die Zeit nimmt und in die Betrachtung einer Blütenentfaltung versinkt, wird das jeden Augenblick im Garten ablaufende, aber oft unbeachtete Schauspiel nicht vergessen. Die Knospe ist Symbol für Geheimnis und Versprechen. Ihre Hüllen umschließen schützend die schon fertige, oft spiralförmig ineinander gewickelte Blüte. Beim Aufblühen sprengen die Kronblätter kraftvoll die Umhüllung und entfalten im Zeitlupentempo den Insekten einladenden Schauapparat. Seine baumeisterlichen Ausmaße erstaunen nicht selten und lassen kaum glauben, dass alle Teile in der Knospe Platz fanden.

Martin J. Allen entdeckte 1992 die Pflanzenmalerei, während er sich von einer Krankheit erholte. Was als Therapie begann, entwickelte sich schnell zu einem ernsthaften Interesse an botanischer Kunst. Seine oft zweideutigen Pflanzenbilder zeigen vergrößerte Knospen, die aus dem natürlichen Zusammenhang gerissen sind. Dadurch bringt man sie mit ganz anderen Themen in Verbindung („ that leads to the feeling that they remind you of something else“). Sie wecken Fantasien und Assoziationen des Betrachters und erfüllen so Allens Ansinnen nach dem Sehen von Möglichkeiten („Seeing potential“). Für den zeitgenössischen Maler halten alltägliche heimische Wildpflanzen wie Löwenzahn kostbare Überraschungen bereit. Die hauchzarten Kronblätter des Korbblütlers werden in der jungen Blütenknospe anfänglich schuppenartig von einer grünen Hülle dicht abdeckender Blättchen geschützt und verborgen, während die äußeren grünen Blätter in einem sympathischen Durcheinander herabzeigen. Bei idealen Bedingungen öffnet sich das Köpfchen und gibt einen strahlend goldgelben Blütenstern frei, der abends erneut seine Knospenform einnimmt. Nach ein paar Tagen blüht der Löwenzahn ein letztes Mal, um schließlich im Inneren seine Schirmfliegerfrucht zu bauen.

Martin J. Allens Knospenbild ”Löwenzahn königlich“ (Aquarell und Blattgold, 2014) wirkt majestätisch und unverletzlich. Es ist eine Hommage an Karl Blossfeldts (1865 – 1932) 8-fach vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotografie einer Knospe von Taraxacum officinale. Mit der Veröffentlichung „Urformen der Kunst“ erlangte Blossfeldt, der legendäre Pionier des neuen fotografischen Sehens, 1928 schlagartig Berühmtheit. Blossfeldts auffallend abstrakte Nahaufnahmen von Pflanzen, ursprünglich aus der Praxis der künstlerischen Lehre am Königlichen Kunstgewerbemuseum in Berlin entwickelt, gelten als Klassiker der Kunst- und Fotografiegeschichte.

Sein Bewunderer Martin J. Allen lebt in England an der Grenze zu Schottland und gilt heute selbst als einer der führenden botanischen Künstler Großbritanniens. Allen ist darüberhinaus als Naturwissenschaftler tätig und engagiert sich in Umweltprogrammen wie einem Projekt zum Erhalt regionaler Pflanzengesellschaften auf alten Wildblumenwiesen in Redcar und Cleveland. Die Königliche Gartenbaugesellschaft Royal Horticultural Society (RHS) zeichnete seine Bilder mit mehreren Goldmedaillen aus.

Shirley Sherwood Gallery of Botanical Art

Martin J. Allens Arbeiten sind in der Shirley Sherwood Gallery in den Londoner Royal Botanic Gardens, Kew vertreten. Das erste Museum für Botanische Kunst in Europa gründete die Kunstsammlerin Dr. Shirley Sherwood im bedeutendsten botanischen Garten der Welt 2008. Die Londoner Botanikerin besitzt europaweit die größte private Sammlung an Botanischer Kunst und trägt durch Ausstellungen sowie Bücher maßgeblich dazu bei, dass die „Botanical Art“ mittlerweile als professionelle Kunstrichtung angesehen wird. Den Blick auf bedrohte Pflanzen zu lenken, ist Shirley Sherwood ein besonderes Anliegen. Ihre erfolgreiche Ausstellung „Plants in Peril“ wanderte 2012 unter dem Titel „Pflanzen in Gefahr - Botanische Kunstwerke aus der Sammlung Shirley Sherwood“ in die Städtischen Galerien in Paderborn (Ostwestfalen). Viele der eindrucksvollen Bilder zeigen die Schönheit von einigen der weltweit am stärksten bedrohten Pflanzen. Die Sammlung der fast 90-jährigen Engländerin umfasst zur Zeit über 1000 Werke von 303 Künstlern aus 36 Ländern. Sie wird aktuell in London mit einer neuen Ausstellung „Modern Masterpieces of Botanical Art“ (siehe unten) gewürdigt.

Renaissance der Botanischen Kunst - Botanical Art

Unter dem internationalen Begriff „Botanical Art“ erlebt die Darstellung von Pflanzen im englischsprachigen Raum seit rund 20 Jahren eine derartige Renaissance, dass sich Gesellschaften von Botanischen Künstlern gründeten. Die größte und international aktivste Gesellschaft ist die ASBA (American Society of Botanical Artists). Die meisten Künstler arbeiten mit Aquarellfarbe oder Farbstift auf Papier oder Pergament und stellen die Pflanzen mit wissenschaftlicher Genauigkeit dar.
In Deutschland sind rund 20 zeitgenössische Künstler wie Martin J. Allen, Annie Patterson, Verena Redmann, Andreas Hentrich oder Hermann de Vries im Forum Botanische Kunst in Thüngersheim bei Würzburg vertreten. Die Künstlerin Sylvia Peter und ihr Mann Michael Junginger gründeten vor 10 Jahren die bisher einzige Galerie in Deutschland, die sich ausschließlich der Darstellung der Pflanzenwelt widmet. Den hierzulande bisher wenig bekannten Begriff „Botanical Art“ übersetzen sie mit „Botanische Kunst“ und erweitern die Spannbreite an Kunstformen um Öl- und Acrylmalerei, Grafik, Fotografie und Objekt. Dabei bildet die Pflanze stets das Thema des ausgestellten Kunstwerkes.

Bilder der Alten Meister als Inspiration

Die zeitgenössischen Künstler haben die Botanische Kunst nicht erfunden. Die künstlerische Darstellung der Pflanze lässt sich bis in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen. Eines der ältesten bekannten Pflanzenbilder ist ein Lilienfresko im Palast von Knossos auf Kreta, das bereits im 2. Jahrtausend vor Christus als Wandschmuck entstand. Die Pflanzenillustration war seit der Antike aber vor allem zunächst eng mit der Heilkunde verbunden und ermöglichte Ärzten und Apothekern die Identifizierung von Arzneikräutern in sogenannten Kräuterbüchern. Der Begriff „Kräuter“ meint alle medizinisch wirksamen Pflanzen und aus ihnen gewonnenen Präparate. Die ersten lebensechten Pflanzenbilder bereiteten den Weg von der mittelalterlichen Heilkunde zur eigenständigen Wissenschaft der Botanik. Die zu Beginn der Renaissance entstandenen Kräuterbücher der Mediziner Otto Brunfels, Leonhart Fuchs und Hieronymus Bock, der sogenannten „Väter der Botanik“ sind Meisterwerke der botanischen Illustration. Bis heute ziehen die meisten Apotheker und Botaniker gezeichnete Bestimmungsbücher fotografierten vor. Gute Pflanzenporträts stellen Eigenarten wie Blütenstruktur, Aufbau des Fruchtknotens und der Frucht sowie den gesamten Lebenszyklus der Pflanze im Detail dar. Sie erfassen also das ganze Wesen der Pflanze.
In der deutschen Kunstgeschichte gelten vor allem Albrecht Dürer, Maria Sybilla Merian, Ernst Haeckel sowie Karl Blossfeld als herausragende Künstler, die sich der Darstellung von Natur und Pflanze widmeten. Den heute arbeitenden Künstlern dienen die Bilder der Alten Meister als Inspiration, die sie mit zeitgenössischen Entwicklungen in der Kunst und ihrem persönlichen Blick auf die Natur verbinden. Sylvia Peter und Herman de Vries nehmen in ihren Arbeiten „Rotschwingel“ (2016) und „Rasenstück“ (2015) Bezug auf Dürers berühmte Naturstudie einer Wiese „Das große Rasenstück“ (1503) mit Löwenzahn, Breit-Wegerich und Wiesen-Rispengras. Die bescheidene, respektvolle Haltung zur Natur, die das vor 500 Jahren entstandene Meisterwerk wiederspiegelt, ist im 21. Jahrhundert wichtiger denn je.

Biodiversität – Thema botanischer Künstler

Daher überrascht es nicht, dass sich 2018 botanische Künstler aus 25 Ländern erstmals zusammengeschlossen haben, um gemeinsam den Menschen die Welt der Pflanzen, die Biodiversität auf unserem Planeten durch botanische Kunst nahe zu bringen. An dem weltweiten Projekt, der Ausstellung „Botanical Art Worldwide“ beteiligten sich Hunderte von Künstlern aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, USA, Russland, Japan, Costa Rica, Chile, Indonesien oder Australien und lenkten so den Blick auf die unendliche Vielfalt der Flora unserer Erde – linking people with plants through botanical art. Durch die zusätzliche digitale Präsentation der Kunstwerke an den anderen weltweit zeitgleich stattfindenen Ausstellungen konnten die Kunstwerke eindrucksvoll miteinander verbunden werden.

Aktuell bieten diese interessanten Ausstellungen
einen Einblick in die zeitgenössische Botanische Kunst:

Bis zum 6. Dezember 2020 ist die Ausstellung
»Pflanzen & Co.«
mit Pflanzen- und Insektendarstellungen von Asuka Hishiki und Maria Sibylla Merian im Forum Botanische Kunst, Obere Hauptstrasse 18, 97291 Thüngersheim zu sehen, botanische-kunst.de

Im Frühjahr 2021 ist die Ausstellung
»Alltagsgewächse«,
geplant, sie zeigt Arbeiten der Künstler Lisbeth Habusta (Kugelschreiberzeichnung), Brigitte Hofherr (Malerei), Connie Scanlon (Aquarell, Pigmentdruck), Achim Weinberg (Fotografie). Siehe botanische-kunst.de

 


Text: Anja Birne
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Sylvia Peter, Forum Botanische Kunst