Der Garten als Zeit-Kunst

Um ein Bild oder eine Skulptur richtig zu begreifen, benötigt der Betrachter Zeit. Details wollen aufgenommen und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Allein, das Kunstwerk ändert sich nicht, auch wenn der Anschauende sich Tage, Wochen oder Jahre Zeit nimmt. Es mag sich das Licht wandeln und damit der Eindruck, den die Skulptur auf uns macht. Ein Bild kann in der Morgensonne eine andere Wirkung haben als im indirekten Kunstlicht einer Ausstellungshalle. Auch kann die Gemütsverfassung des Betrachters einen völlig neuen Eindruck auslösen. Dennoch bleibt das Kunstwerk was es einmal war. Ob Bildhauer oder Maler, beide brauchen sich Gedanken über den Wandel ihrer Werke nicht zu machen.

Dem Landschaftsarchitekten geht es anders. Den Wandel seines Entwurfes einzuplanen, gehört zur Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Gartengestaltung. Seine wichtigsten Gestaltungselemente, die Stauden und Gehölze, sind Lebewesen, und eine ihrer wichtigsten Eigenschaften ist das Wachstum, ihre Größen- und Formveränderung. Welche Entwicklungsphase eines Gartens soll der Gestalter  seinem Auftraggeber anbieten? Soll er ihm das enttäuschende erste Jahr auf dem Papier vorführen? Soll er ihm zeigen, wie der Garten in 10 Jahren aussehen könnte? Oder ist es besser, den Garten in einem Endzustand zu offerieren, auf die Gefahr hin, dass der Auftraggeber diesen Zustand gar nicht mehr erleben wird?

Die Fürsten des Barock wollten sich dieser Gefahr gar nicht erst aussetzen. Sie verlangten einen Garten, der vom ersten Tag an bis in alle Ewigkeit so zu verharren hatte, wie es auf den Entwürfen vorgesehen war. Wachstum war verpönt, ihm entgegen zu wirken war Aufgabe der Hofgärtner mit Schere und Säge. Und so entstanden in dieser Zeit Kunstwerke, die mehr Skulpturen, als lebende Gärten waren. Die Zeit in diesen Gärten steht noch heute still.

Wenn es nur das Wachstum wäre, mit dem die Gestalter rechnen müssen. Hinzu kommen die Jahreszeiten. Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Die Leichtigkeit des lichten Austriebs, die Schwere des Sommers, die Farbe und Reife des Herbstes und die erneute Transparenz, der Scherenschnitt des Winters. Eine schwere Aufgabe? Gewiss, aber vor allem eine sehr schöne Aufgabe.

Das muss man sich einmal bewusst machen: Ein Garten, wenn es sich nicht um einen absolutistischen Barockgarten handelt, gleicht an keinem Tag einem anderen. Wir haben ein Werk vor uns, das sein Gesicht ständig wandelt, eine Wiederholung ist unmöglich, dank des Wachstums, dank der Jahreszeiten, dank der Witterungssituation, dank der Tageszeit und schließlich auch, weil wir selber eingreifen wollen oder eingreifen müssen.

Eine Lenzrose, Helleborus Orientalis Hybride. Gepflanzt in den Schatten eines Gebäudes. Sie blüht in lichtgrünem Weiß. Nach 15 Jahren besitzt sie einen beachtlichen Umfang, strotzt mit Dutzenden von Blüten und hat längst Kinder und Kindeskinder. Die aber blühen nicht nur weiß, sondern rosa, grünlichrosa, dunkelrotgrünlich. Die Schönste und Üppigste hat sich in der Nachbarschaft des Komposthaufens angesiedelt. Am üppigsten wohl wegen der reichlichen Nährstoffe dort. Ohne Zeit wäre eine solche Entwicklung nicht denkbar. Oder die Winterlinge, Eranthis. Die Knollen, halb vertrocknet, treiben nur mit Mühe aus. 12 Pflänzchen im folgenden Februar. Kaum zu sehen sind sie. Bis ihre zahlreichen Kinder zu blühen beginnen, vergehen 2 bis 3 weitere Jahre. Doch nun nimmt das Vorfrühlingsgelb zu. Und allmählich bildet sich ein dichter gelber Teppich. Kaum ist für weitere Sämlinge noch Platz. Wie lange leben die Eranthis eigentlich? Sterben sie nach gewisser Zeit und machen so den Nachkömmlingen Platz? Oder sind sie so langlebig wie Gehölze und manche Großstauden?

Deren langes Leben, zum Beispiel das der Päonien, sorgt für eine gewisse Konstanz im Garten. Wo die Paeonia officinalis steht, aus Samen einer Wildpflanze aus dem Gardasee-Gebiet, verändert sich so viel nicht. Da wird nicht dran gerührt, an solch einer 20 jährige Seniorin. Andererseits ist ihr Wachstum noch immer nicht abgeschlossen. Wie sieht eine reife, alte Päonie aus? Wer je Päonien aus Samen herangezogen hat, weiß von diesem mühseligen Geschäft. Paeonia officinalis übernimmt diese Aufgabe selbst. Wie bei den Helleborus tauchen an den verschiedensten Stellen im Garten Kinder und Enkelkinder auf.

Doch manche Stauden haben kaum eine Kindheit und auch kein Alter. Schon nach 3-4 Jahren büßen sie an Vitalität ein und müssen geteilt und verpflanzt werden. Im Folgejahr sind sie bereits wieder volljährig: geteilte, geklonte Pflanzen. Eine Gärtnertechnik zur Erhaltung wertvoller Sorten. Eine Unsterblichkeitstechnik? Wohl kaum. Sorten bauen ab oder verändern sich. Andere verschwinden durch Unachtsamkeit, durch Kriege oder Geschäftsgier.

Lassen die klonenden Gärtner die Zeit stillstehen? Die Massenfabrikation von wenigen, aber gut gehenden Stauden, die sich leicht vermehren lassen, würden schon in 10 Jahren zu einer trostlosen Sortenverarmung führen, stellten nicht einige wenige Staudengärtner ihr ganzes Können, ihr ganzes Gewicht dagegen. Sie wollen nicht die Zeit stillstehen lassen, wohl aber wichtiges Kulturgut der Menschen für die Menschen erhalten: und das sind Sorten von wertvollen Nutzpflanzen und Zierpflanzen, Sorten, Auslesen, die in Jahrhunderten entstanden, und Züchtungen, die weniger alt, aber nicht weniger wertvoll sind.

Die hohe wirtschaftliche Geschwindigkeit unserer Gegenwart ist  natur- und gartenfeindlich. Der Phloxspezialist Hermann Fuchs klagt über die Verluste an Phlox-Maculata-Hybriden durch die beiden Weltkriege. Doch die Hochgeschwindigkeit der Wirtschaft heute verursacht wahrscheinlich viel höhere Verluste. Was bliebe, wären bald die namenlosen Massenstauden, wie sie in vielen Gartencentern angeboten werden. Zum Glück aber gibt es engagierte, leidenschaftliche Staudengärtner, Staudenzüchter und Laien, die zu retten versuchen, was noch zu retten ist.

Zeit kann man nur in der Langsamkeit genießen. Der Garten braucht Weile. Der Standard-Kataloggarten, in Hochgeschwindigkeit hingestellt, verursacht Langeweile. Der Wunsch, die Gehölze mögen von Anfang an etwas hermachen, bringt nur für kurze Zeit Befriedigung. Kein großer Baum kann solch eine Vitalität entwickeln, wie ein Jungbaum in der vollen Kraft seines Wachstums.

Ein Garten steht nicht plötzlich da, er entsteht. Und indem er seine Kindheit und Jugend durchlebt, an Fülle und Masse zunimmt, schafft er sich neue Lebensräume. Erst nach ein paar Jahren haben sich unter den Bäumen und Sträuchern jene Plätze entwickelt, an denen sich die Gehölz- und Gehölzrandpflanzen wohlfühlen können. Waldmeister kann man nicht in den Vollschatten eines Gebäudes pflanzen, aber auch nicht in die volle Sonne. Er braucht das Wechselspiel von Licht und Schatten, das nur Laubgehölze zu geben vermögen. Und er braucht vor allem das Licht im Frühling. Und den Schatten des Laubdaches im Sommer. Genauso geht es den Cyclamen, den Leucojen, den Buschwindröschen, dem Aronstab und sehr vielen anderen Stauden.

Professor Richard Hansen hat vor Jahren den Begriff „Reifer Garten“ geschaffen. Er versteht darunter jenen Zustand, in dem die Bäume erwachsen sind. Ihre Gestalt hat nun etwas Ehrfurcht Einflößendes, Breites, Behebiges. Sie blühen reich und tragen Früchte. Zu ihren Füßen gedeihen jetzt optimal Gehölze, die im Junggarten durchaus Schwierigkeiten haben. Eiben, Zaubernuss, Rhododendron, Hortensien, Scheinhasel und Seidelbast, Buchsbaum und Skimmia, Lorbeerkirsche, Ilex und in milden Gegenden auch Kamelien. Sie kommen mit dem Wurzelwerk der Großbäume gut zurecht, ihnen behagt der Schatten der Altbäume. Und vielfach schützen die hohen Bäume die etwas empfindlichen Immergrünen auch vor winterlichem Stress durch Sonne, Wind und Frost.
So entwickelt sich der Garten, vom offenen Pionierstadium mit Einjährigen und anderen Kurzlebigen, mit Stauden der Freifläche, bis zum reifen Garten mit reifen Gehölzen und reifem Unterwuchs.

Jeder Eingriff durch uns Gärtner aber unterbricht diese Entwicklung, die Sukzession des Gartens. Das offene Beet ist ein ständiger Neubeginn. Das Gehölz wird durch Schnitt verjüngt: In einer frischen Gehölzlichtung beginnt alles von vorn. Wie dort im Wald, wo Fuchs und Kaninchen die Erde aufgewühlt und gebaut haben und Einjährige wieder Lebensraum finden. Das Bedürfnis der Menschen nach Licht und Luft ist verständlich. Doch einen schönen, alten und reifen Garten zu übernehmen und diesen total zu erneuern, das ist ohne Ehrfurcht. Ohne Ehrfurcht vor den Baumgestalten, vor den alten Stauden, ohne Ehrfurcht vor den Vorbesitzern, die den Garten zu seinem Höhepunkt geleitet haben. Und dennoch geschieht diese Totalerneuerung allenthalben, auch bei wertvollen Gärten, ein Grund,  warum es so wenig bedeutsame Privatgärten aus vergangenen Zeiten gibt.

Aber Zeit offenbart sich nicht nur im Wachstum, in der Sukzession, im Altern von Pflanzen und Gärten. Wer einen Garten nur während einer einzigen Tageszeit erlebt hat, kennt diesen Garten nicht. Wer ihn nur während des Sommers erlebte, sollte sich im Herbst aufmachen zu einem weiteren Besuch. Und dann im Winter und im Frühling. Und manchmal sollte man dann besonders früh aufstehen, um ganz Entscheidendes erleben zu können. Der Morgen eines sonnigen Maientages etwa, wenn die meisten Menschen noch schlafen, die Vögel aber bereits in aller Leidenschaft vom Frühling künden; wenn Dunst über den Wiesen liegt und Millionen von Tautropfen die Gartenwesen benetzen, wenn die Sonne noch tief steht und die frischen Stauden lange Schatten werfen. Darf man sich so etwas entgehen lassen?

Oder Nächte im Garten. Nicht die Kunstlicht bestrahlten Rasenparties, sondern das Mondlicht, das Nachtblüher, wie Nicotiana, Phloxe, Hesperis, Oenothera leuchten und duften lässt. Wer das Brummen der Nachtschwärmer und das schnelle Kreisen der Fledermäuse vor dem fast dunklen Abendhimmel bislang nicht erlebt hat, der kennt den Garten noch nicht richtig. Und immer gehören die Stimmen der Tiere dazu: die Nachtigall oder das infernalische Quaken von Laubfröschen.

Es sind die jahreszeitlichen Grunddüfte, die unsere Duftpflanzen erst richtig zur Wirkung kommen lassen. Frische Erde, ja selbst Gülle im Frühling, Heu im Frühsommer, Getreide im Hochsommer. Der Spätherbst roch früher nach Kartoffelfeuer. Ein wesentlicher Duftaspekt, der heute leider fehlt. Aber es gibt andere: der Geruch von abgelassenen Fischteichen, von Walnusslaub, von Herbstchrysanthemen und von frisch geerntetem Lauch und Sellerie!

Und lassen wir den Winter nicht aus. Siebenmal schneit es im Flachland und siebenmal taut es dort wieder. Und während der letzten winterlichen Interregien schiebt sich der Vorfrühling dazwischen, mit Haselnuss und Hamamelis, mit Viburnum bodnantense und Jasminum nudiflorum. Und liegt wirklich wieder Schnee, dann genieße

n wir sein makelloses Weiß und freuen uns darüber, dass er die dringenden Gartenarbeiten noch einmal liebevoll zudeckt.
So bringt jede Tageszeit und jede Jahreszeit eine neue Sicht. Die Zutaten sind unsere Pflanzen, die großen und die kleinen, die Tierwelt des Gartens und seines Umfeldes, die Gerüche und Düfte und das Wetter, das über Licht und Temperatur entscheidet.

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, zum Bild des Malers, zur Skulptur des Bildhauers. Ein Bildhauer, der sein Werk zu ungewöhnlichem Leben erwecken möchte, der stellt es in einem Garten auf. Er setzt es den Tageszeiten und den Jahreszeiten aus, den wechselnden Farben der Natur, dem Glanz des Regens, dem orangen Licht der untergehenden Sonne. Vor Flechten hat er keine Angst, er vertraut dem verwendeten Material. Alles eingangs Gesagte über die unveränderliche Skulptur erscheint daher nun in etwas anderem Licht.

Und der Garten als Kunstwerk? Ein Kunstwerk, das in der Zeit einem ständigen Wandel ausgesetzt ist. Aber auch ein Kunstwerk, das nur im Lauf der Zeit begriffen werden kann. Gibt es eine Kunst, die dem Gartenerleben vergleichbar wäre? Nur die Musik. Auch sie offenbart sich uns erst in ihrem Ablauf. Reduzieren wir sie auf eine Momentaufnahme, dann bleibt vielleicht ein Akkord übrig, vielleicht nicht einmal der. Sehen wir einmal von den statischen Musikkonserven ab, beschränken uns auf lebende, frisch aufgeführte Musik, dann ist jede Aufführung etwas völlig Neues. So wie der Garten, der sich während seiner ganzen Existenz nicht ein einziges Mal wiederholt. Wenn wir die Größe eines Musikwerkes mit dem Garten vergleichen, dann mag die Symphonie dem Gartenjahr entsprechen, das Kammermusikstück der Jahreszeit, das Lied dem Tagesablauf im Garten und das kurze Betrachten dem japanischen Heiku, dem siebzehnsilbigen Kurzgedicht, das dann allerdings keine Musik im üblichen Sinne, sondern eine literarische Form ist.

Christian Seiffert
aus Jamlitz und Eresing Seit 2001 experimentiert Christian Seiffert parallel in zwei geographisch weit auseinanderliegenden Gärten: in Oberbayern und in der Niederlausitz, im Land Brandenburg.
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