Der Lorbeerbaum

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Es war ein bitterkalter Winter vor mehr als 30 Jahren, als wir mit unserem Redaktionsbüro aus einem Nebengebäude ins Hochhaus umzogen. Alle meine Akten und Bücher hatte ich in Kartons verpackt, die Schränke, Regale und meinen Schreibtisch waren leergeräumt. Zum Abschied warf ich noch einen letzten Blick mein Büro, das ich drei Jahre lang mit einem Kollegen geteilt hatte, dann ging ich die Treppe hinunter. Im Vorbeigehen erblickte ich durch die gläserne Tür, die zum Balkon führte, den alten Lorbeerbaum, den irgendwann jemand wegen Schildlausbefall nach draußen verbannt hatte. Nun stand er sehr traurig da. Die meisten Blätter waren braun. Bei Berührung fielen sie ab.
„Was ist mit dem alten Lorbeerbaum? Will den keiner mitnehmen!“, rief ich meinen Kolleginnen und Kollegen zu.
„Nö!“, erhielt ich als lapidare Antwort.
„Gut, dann nehm’ ich ihn eben.“
Keine Antwort.
So schnappte ich mir den Lorbeerbaum und trug ihn hinaus in mein Auto. Er steckte in einem Plastikkübel und war leicht, sicher, weil ihn lange niemand mehr gegossen hatte. Die welken Blätter fielen raschelnd herunter.

Zuhause entfernte ich die noch verbliebenen welken Blätter und abgestorbenen Triebe. Die gesunden Triebe schnitt ich auf ein Drittel ihrer Länge zurück. Dann stellte ich ihn mit dem Plastikkübel erst einmal in eine Wanne Wasser. Während sich der Wurzelballen vollsog, mischte ich Erde: 1/3 reifen Kompost, 1/3 lehmige Gartenerde, 1/3 Sand. Außerdem gab ich eine Handvoll Hornspäne und zwei Hände voll Urgesteinsmehl dazu. Vom Ballen schüttelte ich die alte Erde ab, schnitt die Wurzeln zurück und pflanzte den Lorbeerbaum in einen großen Tontopf. Seinen neuen Platz erhielt er vor einer Wand aus Glasziegeln im Treppenhaus.
Es dauerte einige Zeit, bis er austrieb. Doch dann, im nächsten Frühjahr wuchs er wieder zu einem stattlichen Bäumchen heran.

„Der Löörbeerbaum“, nannte ihn unser jüngster, gerade mal zweijähriger Sohn. Er war ganz begeistert von diesem grünen Gewächs und hielt sich gern in seiner Nähe auf. Und der Baum wuchs und wurde wieder richtig schön. Später haben wir ihn bei unserem Umzug mitgenommen, und wir erfreuen uns noch immer an ihm. Meine Frau hat einmal Stecklinge von ihm geschnitten. So haben wir einen zweiten und dritten Lorbeerbaum. Aus dem dritten hat meine Frau einen Hochstamm gezogen. Und unsere Lorbeerbäume haben alle drei auch schon geblüht. Jeweils nach ein paar Jahren wird es ihnen zu eng im Topf. Eigentlich müssten sie einen größeren Behälter bekommen. Doch dann würde es schwer werden mit dem Transport ins Winterquartier. So topfe ich den jeweiligen Lorbeerbaum aus und verkleinere den Wurzelballen radikal, indem ich mit dem Spaten Teile des Ballens absteche. Auch in Umfang und Höhe habe ich ihn gelegentlich verkleinert. Nach dieser Verjüngungskur wächst er immer schöner und anmutiger heran. Seit ich unser Erdgewächshaus gebaut habe, grabe ich unsere Lorbeerbäume darin mit dem Topf ins Erdbeet ein und decke sie mit einem Vlies ab. Das Gewächshaus ist nicht beheizt. Wenn’s mal sehr stark friert, stelle ich Grabkerzen hinein. Dann sinkt die Temperatur selten unter –5 °C. Aber so ein Lorbeerbaum ist hart im Nehmen!
Der Vater dieser jungen Lorbeerbäume ist noch immer da, er gehört wie seine vegetativen Kinder zur Familie. Und wie unser jüngster Sohn. Der ist gerade 33 Jahre alt geworden.

Wolfram Franke
aus Vaterstetten Handfeste Gartenarbeit und Schreiben, sowohl mit grüner Tinte als auch mit dem Computer, gehören für Wolfram Franke zusammen. Seinen seit 1994 gewachsenen Kreativgarten in Vaterstetten hat er mit alten Baustoffen gestaltet.
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Text und Fotos: Wolfram Franke